Obertreiber Wolf aus Neuzell
 


Augenzwinkernd wollte er gerade noch anfügen, es sei schon ein bissel leichter gegangen, weil ein paar Interessenten selber im Stadtrat "drin hocken", er blieb aber statt dessen ganz unvermittelt stehen und stieß seinen Gefährten an mit der Aufforderung: "lus´a mal!" Seinen stets hellwachen Sinnen war es nicht entgangen, dass vom "Schlot", dem nahe bei der Aschbucher Wegkreuzung gelegenen Feldhölzel, leise der melodische Singsang einer Zwei-Mann-Zugsäge herüberklang. "Die Holzhauer sind auch schon am Werk", befand er, während es der Schweiger verstand, die ganze Mühsal und Gefahrenträchtigkeit dieses Broterwerbs in bildhaftem Sarkasmus mit den Worten abzutun: "Recht hast, die spielen schon auf ihrer Ziehharmonika". Weiter vermutete er dann: "Da wird der Wolf von Neuzell wahrscheinlich heute nicht als Obertreiber kommen können." "Täusch´ dich net", entgegnete der andere, "der lässt doch dem Wirt von Aschbuch sei Treibjagd net hinten, der is´ leicht abkömmlich, weil ja sein Großer schon mitarbeitet". Alsbald vernahm man deutlich einen verhallenden Warnruf, dem ein Krachen, Splittern, Bersten und schließlich ein dumpf polternder Aufschlag folgte. "Das war die alte Fichte beim großen Fuchsbau", vermutete der ortskundige Korl in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloss, "die hätt´ schon längst weggehört, wei´s  die ganze nachwachsende Kultur verstopft und verstäubt". Das sogleich vernehmbare, unrhythmische Tekel-Takel der Hiebe schwerer Äxte verriet, dass die Männer in ihrer Arbeit fortfuhren. "Die müssen scheint´s im Akkord schuften", folgerte der Korl daraus.
 

Bei solcherlei Unterhaltung waren sie es gar nicht gewahr geworden, dass der aufhellende Schnee das Ringen zwischen Nacht und Tag beschleunigt hatte. "Über der Schanz (Ingolstadt) wird´s schon hell", stellte der Schweiger nach einer kurzen Gesprächspause fest, als sie einer noch von weitem anrief: "He, lasst mich auch mit!" "Da hast ihn schon, den Wolf", bestärkte der Korl seine Vorhersage. Aus der Morgendämmerung kam denn auch schon ein schwerer Schritt auf sie zu. Und er war´s, dieses unermüdliche, immer hilfsbereite, grundehrliche Mannsbild. Seine weite Pluderhose wulstete über den kurzen Stiefelschäften, während ein verwitterter Filzhut mit rundum aufgekrempeltem Rand den Kopf zwischen den breiten Schultern bedeckte und so den Blick freiließ in ein fröhlich-gutmütiges Gesicht, das trotz der buschigen Augenbrauen und des struppigen Bartes nichts an Heiterkeit einbüßte.
 

Wenn sich Nachbardörfler begrüßen, tun sie das ohne großes Zeremoniell. Drum beschränkte sich der Wolf auf ein ehrlich gemeintes "Gröiß enk God, Manner!" und stieß dabei mit seinem Treiberstecken bekräftigend gegen den Boden.  Doch, was rede ich von einem Stecken! Was der Neuhinzugekommene da in seiner klobigen Pranke hielt, war schon eher ein ansehnlicher Prügel, der mit seiner Stärke und Länge an die Stütze erinnerte, mit der Sankt Christophorus dargestellt zu werden pflegt. Für Dinge, von denen einer glaubt, ohne deren tagtäglichen Gebrauch nicht bestehen zu können, hat der örtliche Volksmund das treffende Wort "Leibvieh" geprägt; damit hat man es fertiggebracht, ständig getragenen oder gebrauchten, leblosen Sachen, wie einem Hut, einem Stück Gewandung und dergleichen so etwas wie ein wenig Seele einzuhauchen. Solch einen ständigen Begleiter also sah der Wolf offenbar in seinem Stock, von dem er sich nicht einmal nach der Jagd bei der abendlichen Einkehr im Wirtshaus trennte. Dieses selbstverliehene Rangabzeichen des Obertreibers lag dann immer griffbereit in der Armbeuge seines Trägers und vermittelte, zusammen mit seinem sonstigen rauen Äußeren (allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung), den falschen Eindruck fast eines rauflustigen Rabauken. Dabei war keiner friedsamer als der Wolf, dessen raue Schale noch manches andere überdeckte. So konnte der Zuschauer jetzt etwas nicht Alltägliches beobachten, indem der Obertreiber seinen nicht gerade leichten Rucksack vorsichtig zu Boden gleiten ließ, um seinen darin jetzt ungeduldig zappelnden Hund, einen hochstämmigen Dackel, in die Freiheit zu entlassen. Die beiden Jäger wussten, um diese Gewohnheit des Wolf und hatten die naheliegende Frage nach dem Verbleib seines Waldl erst gar nicht gestellt. Sie beschränkten sich lachend auf die Feststellung, dass es dem Vieh sichtlich wieder einmal gutgetan habe, auf dem warmen Buckel seines Herrn, während der Wolf von der Notwendigkeit solcher Schonung seines nicht mehr jungen, ständigen Begleiters so überzeugt war, dass er keine Spur etwa von Verlegenheit wegen seines Verhaltens zeigte.
 

Trotz der Derbheit in ihrem Äußeren erschienen nunmehr im milden Zwielicht des Morgens die Umrisse der drei Männer mit ihren Hunden in den weichen Konturen, wie sie kunstfertige Schnitzer von Figuren für Bauernkrippen erfassen und - in Holz übertragen - stimmungsvoll wiederzugeben vermögen.
 

Wie auch die Herren waren auch die beiden vierläufigen Jagdgehilfen längst alte Bekannte. Obwohl Zweifel an ihrer Rassereinheit durchaus berechtigt waren, hielten sie sich bei der Begrüßung, getreu dem Motto "Hund bleibt Hund", streng an die Regeln, wie sie ein geschriebener Codex verlangt; eingehender Beruch unter den gespannt unbeweglichen Ruten, allmähliches Erzittern derselben und Übergang zu freundschaftlichem Wedeln. Flugs dann die Beurkundung der gegenseitigen Sympathie am nächsten Straßenbaum durch fließende Unterschrift des einen und durch ebensolche Gegenzeichnung des anderen. Ferner Bereitstellung der Materie eigener Erzeugung als Beidruck des Siegels und schließlich mit ein paar hastigen Pfotenkratzern Streusand darüber. Belustigt meinte der Korl, der - wie man hören wird - einige Erfahrung im Geschäftsgang bei Behörden hatte: "Da geht´s zu wie beim Notar".
 

Es braucht nicht zu verwundern, dass sich die Unterhaltung der drei auf ihrem weiteren Weg nach Aschbuch um nichts anderes drehte als um die Ergebnisse der letzten Treibjagden, um die Termine der demnächst stattfindenden und um die Aussichten für die heutige. Über der sanften Anhöhe vor dem Dorf sahen sie bereits den spitzen Kirchturm wie einen Dorn in den Morgenhimmel ragen, als wiederum der hellhörige Korl gespannt horchend stehen blieb und die beiden anderen mit ausgebreiteten Armen am Weitergehen hinderte. "Seid´s amal staad! Da hör ich doch weit weg a Schlitteng`läut. Dös is gwiß der Moier von Kirchenhausen; es könnt aber auch einer von den Plank von Plankstetten sein", vermutete er. "Der Moier kann's net sei, den hab i gestern im Holz troffen, der kann sein leichten Waglgaul nicht einspannen, weil er krumm geht. Der Moier kommt z` Fouß übers Irfersdorfer Stoich (Gesteige) rauf", entgegnete der Wolf. "Wenn´s  nur von den Plank der Sepp wär, der hot mir nämlich a Flaschl Dachsöl verheißen", hoffte der Schweiger. Dann erging er sich des langen und breiten über die Güte und die vielen Gebrauchsmöglichkeiten dieses immer rarer werdenden Hausmittels, das auch ebenso für die Pflege von Lederzeug und Waffen gut sei. Der Plank Sepp, so meinte er, sei einer von den wenigen, die noch die mit dem Auslassen des Dachsfettes verbundene Arbeit und vor allem die Gerüche in Kauf nähmen und seine Meisterschaft im Läutern ginge soweit, dass das Öl, goldgelb in der Farbe und glöckelhell (glasklar), kaum von Speiseöl zu unterscheiden sei. "Na ja, es wird sich weisen", beschloss der Schweiger seine Erwartungen.

Mit einem Male lag das Dorf frei für den Blick vor ihnen. Das war für den Wolf Grund genug, für ein paar Augenblicke eine Marschpause einzulegen. Es war beinahe anzusehen wie ein Kampf mit seinen steifen Rockflügeln, als er jetzt umständlich aus der schier unergründlichen Tiefe der Hosentasche seine birkene Schnupftabakdose zutage förderte. Er nahm eine ausgiebige Prise und verwahrte dann mit großer Sorgfalt die nickelbeschlagene, mit den ausgestanzten Anfangsbuchstaben H.N. verzierten Dose wieder  dort, wo sie vorher gewesen war, indem er fast bis zum Ellenbogen in die Hosentasche fuhr, um sich anschließend auch noch durch Tasten außen am Hosenbein zu überzeugen, ob das gute Stück auch wirklich Grund gefasst habe. Das belustigte Schmunzeln seiner Begleiter ob seiner Umständlichkeit - sie war ihnen bei dem ständigen Umgang miteinander nichts Neues - berührte den Wolf keineswegs; er tat es wie immer ab mit der Begründung, er habe dieses Erbstück von seinem Vater einmal verloren gehabt, was aber nie mehr passieren werde.
 

Dann schweifte sein Blick über die Bauernhäuser; ihr breites, massives Gemäuer schien sich dem Gewicht der flachgeneigten Dächer entgegenzustemmen, das ihnen durch den dicken Belag mit unbearbeitetem Kalksteinplattenschiefer aufgelastet war. Die braunverwitterten Bretterwände der Städel und das ebenso wettergebeizte Fachwerkgesprenkel gemauerter Scheunen mit den daran angezimmerten Schweinekoben überflog sein Auge, um schließlich an den verrußten Schloten zu verweilen. Aus den meisten von ihnen stieg der blaue Rauch der Holzfeuerungen steil empor in den rosafarbenen Morgenhimmel, um nach einem kurzen Reigen zu zerfließen und im milchigen Dunst zu verrinnen.
 

"Der Wind passt, `s Wetter passt und der Schnee von heut Nacht passt", dozierte dann der Herr Obertreiber mehr vor sich hin, "mit einem nassen Balg fährt der Fuchs net zum Bau, der liegt heut in den Brouten (Dickungen), da heißt  es nicht zu laut zu treiben, dann könnten wir im Daumtal hinten etliche kriegen. Und der Has´ liegt heut fest und wird net gern aufstehn, wenn z´ laut und z´ schnell trieben wird. Wegam Wind mouß heut rechts vom Kirchbucher Weg ogfangt wer, sunst kröing ma koan Fuchs. Hab ´s scho gsehn", beschloss er seine strategischen Überlegungen, die auch die Zustimmung der beiden anderen fanden. "Wenn der Wirt ebba andersrum treim wollt, moißts ma fei helfa, dass man umstimma", wandte er sich an seine Begleiter, "wos net so leicht geh wird bei dem sein Dickschädel". Womit der Wolf Umsicht, Sachverstand, Revierkenntnis und nicht zuletzt auch Menschenkenntnis verriet.
 

"Beim Hanserbauern werd heut bacha, dös sicht ma, weil der Backofa scho ogschürt is und beim Kanöid schlachtns ganz gwiß, döi san im Hof voller Unmouß (Geschäftigkeit)", folgerte der scharfsinnige Korl bei dem Rundblick über das Dorf. Ohne rechten Zusammenhang erwähnte er dann als Neuigkeit, beim Seebauern habe man kürzlich eine Stalldirn neu gedungen, "a fests Weiberts". Dabei schob er den Hut ins Genick, kraulte sich bedächtig im Kopfhaar und rückte den Filz wieder zurecht. Ein erfahrener Verhaltensforscher konnte daraus schließen, durch eine solche Gebärde sei bei Berücksichtigung der sonstigen Wesensart des Individuums "Erwägung" ausgedrückt; ein wissenschaftlich weniger Belasteter dagegen wird dem Korl Revierkenntnis zuerkennen, wenn auch in anderem Sinne als vorhin dem Wolf. "D´ Hof- und Kettenhund ham uns scho dagneißt (wahrgenommen)" bemerkte der Korl im Weitergehen, "der erste beillt scho, nacha dauerts nimma lang bis alle andern im Dorf a rebellisch wern". Und er behielt recht.

weiterlesen            zurück    
"Plank Sepp" aus Plankstetten